Jeder Jude ist ein ausländischer Staat
Vor das Gedenken hat Gott den Völkermord gesetzt. Deutschland hat sich in beiden Disziplinen vorbildliche Noten verdient. Kein Land gedenkt so gewissenhaft, mit so viel Ernst und Ausdauer. Und kein Land hat davor so gewissenhaft, mit so viel Ernst und Ausdauer Juden erschossen, erschlagen und vergast. Deutschland weiß, was Antisemitismus ist, sollte man meinen. Und trotzdem stellen sich deutsche Juristen heute an, als ob sie vom Judenhass noch nie etwas gehört haben.
Im Sommer skandierten Judenhasser auf Demonstrationen in ganz Deutschland „Tod den Juden“ und „Juden ins Gas“. Zum ersten Mal seit Ende der Nazizeit wurde ganz offen zum Mord an Juden aufgerufen (und die Polizei assistierte dem Mob noch, indem er ihm seine Ausrüstung zur Verfügung stellte). Ein Detail am Rande war dabei, dass dieser Tabubruch von muslimischen Demonstranten begangen wurde, was auch erklärt, warum die antifaschistische Zivilgesellschaft nur mit den Schultern zuckte. Sie hat vor allem etwas gegen Antisemiten mit Nazihintergrund. Antisemitismus mit Migrationshintergrund ist eine ganz andere Sache.
Nun hat die Generalstaatsanwaltschaft Koblenz entschieden, dass keine strafrechtlichen Konsequenzen zu fürchten hat, wer auf Demonstrationen zum Mord an Juden aufruft. In Mainz war genau das passiert, Demonstranten riefen neben „Tod Israel“ unter anderem auch „Juden raus“, weswegen es zu Strafanzeigen kam. Doch die Juristen wiesen darauf hin, dass „Kritik an einem ausländischen Staat“ nicht „unter den Straftatbestand der Volksverhetzung fällt“. Ist „Juden raus“ wirklich Kritik an einem ausländischen Staat?
Um welchen Staat genau geht es bei Parolen wie „Juden ins Gas!“ oder „Juden raus“? Es gibt weder den Staat Juden, noch den Staat ins, noch den Staat Gas oder raus. Wenn „Juden ins Gas“ oder „Juden raus“ gerufen wird, bringt es die deutsche Justiz trotzdem fertig, darin „Kritik an einem ausländischen Staat“ zu sehen. Juden sehen das nicht so und, was noch entscheidender ist, die Judenhasser auch nicht. Die meinen es ernst mit ihrem Antisemitismus, was ein Blick auf die Zahl der antisemitischen Übergriffe in diesem Jahr zeigt. Laut der Bundesregierung verdoppelten diese sich im Zuge der Demonstrationen im Sommer.
Judenhasser machen keinen Unterschied zwischen dem Staat Israel und Juden. Deswegen greifen sie Juden in Deutschland an, wenn sie ihren Hass auf Israel ausleben wollen. Die Staatsanwaltschaft könnte das wissen, will sie aber offenbar nicht. Oder hält die deutsche Justiz die Juden grundsätzlich für Bürger eines ausländischen Staates?
Gideon Böss ist Autor von Die Nachhaltigen