Protestantismus – zu Besuch bei Luthers müden Erben (2/2)
(Teil 1 finden Sie hier)
Wenn man sich bei der Evangelischen Kirche in Deutschland, die so etwas wie der Dachverband für 20 evangelische Kirchen ist, erkundigt, stößt man auf eine ganze Reihe von Bekenntnissen, Katechismen und Erklärungen, die das gemeinsame theologische Fundament für die 23 Millionen Mitglieder zementieren. Nicht alle der 20 Gemeinschaften teilen alle dieser Dokumente, aber es gibt auch keines, das eine Trennung nötig machen würde. Was allerdings von allen geteilt wird, ist das apostolische Glaubensbekenntnis, das so etwas wie die DNA des Christentums beinhaltet:
»Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten. Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben. Amen.«
Daneben gibt es noch ein weiteres Glaubensbekenntnis, nämlich das von Nizäa-Konstantinopel, auf das sich ebenfalls alle einigen können und das sich im Wesentlichen nur durch die Verwendung des Plurals (»Wir glauben an den einen Gott«) und einer insgesamt etwas ausschweifenderen Prosa vom apostolischen unterscheidet, deren Gewinner vor allem der Heilige Geist ist. Im apostolischen Glaubensbekenntnis wird er nur recht knapp mit der einen einzigen Zeile »Ich glaube an den Heiligen Geist« bedacht, doch das Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel schenkt ihm mehr Aufmerksamkeit.
»Wir glauben an den Heiligen Geist / Der Herr ist und lebendig macht / Der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht / Der mit dem Vater und dem Sohn angebetet und verherrlicht wird / Der gesprochen hat durch die Propheten.«
Ich weiß nicht, ob der Heilige Geist so etwas wie Eitelkeit kennt, wenn ja, wird ihm das Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel jedes Mal runtergehen wie Öl. Daneben gibt es auch gleich zwei Katechismen von Martin Luther, den kleinen und den großen, in denen er das theologische Fundament (warum die Taufe, warum das Gebet usw.) und theologische Kommentare (zum Beispiel was die Zehn Gebote bedeuten) erläutert, sowie einen weiteren, den Heidelberger Katechismus, den die reformierten Protestanten verwenden.
Und natürlich finden sich bei den gemeinsamen Dokumenten der Evangelischen Kirche in Deutschland auch die berühmten 95 Thesen. Ich habe sie mir durchgelesen und mir ist etwas aufgefallen, was womöglich die evangelische Kirche erschüttern wird. Das sind keine 95 Thesen. Es sind nur 67 Thesen. Luther hat oft einfach einen Gedanken in der folgenden These fortgesetzt, die dann allerdings für sich genommen keinen Sinn mehr ergab. In These 57 heißt es beispielsweise:
»Zeitliche Schätze sind es offenkundig nicht, weil viele der Prediger sie nicht so leicht austeilen, sondern nur einsammeln.«
Die Frage ist nun, von welchen Schätzen Luther da schreibt, die offenkundig keine »zeitlichen« sind. Die Antwort findet sich in der vorhergehenden These 56: »Die Schätze der Kirche, aus denen der Papst die Ablässe austeilt, sind weder genau genug bezeichnet noch beim Volk Christi erkannt worden.«
Nur dadurch wird klar, um was für Schätze es in These 57 geht. Ein anderes Beispiel betrifft gleich These 2: »Dieses Wort darf nicht auf die sakramentale Buße gedeutet werden, das heißt auf jene Buße mit Beichte und Genugtuung, die unter Amt und Dienst des Priesters vollzogen wird.«
Um welches Wort geht es Luther hier? These 1 klärt auf: »Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: ›Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen‹, wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße sei.«
Er meint damit also diese Aussage von Jesus. Ohne These 1 würde man These 2 nicht verstehen können. Es gibt noch weitere solcher Fälle, etwa These 9, die da lautet: »Daher erweist uns der Heilige Geist eine Wohltat durch den Papst, indem dieser in seinen Dekreten Tod- und Notsituationen immer ausnimmt.«
Das klingt gut, aber worauf bezieht sich eigentlich das »Daher«? Die Antwort gibt es in These 8: »Die kirchenrechtlichen Bußsatzungen sind alleine den Lebenden auferlegt; nach denselben darf Sterbenden nichts auferlegt werden.«
Auf diese Weise fallen viele Thesen zu einer einzigen These zusammen, da sie einer durchgehenden Argumentationslinie folgen und ohne den Bezug auf ihre »Mutterthese« keinen Sinn ergeben. Um es kurz zu machen, folgende Thesen sind eigentlich eine einzige: These 1 – 4, These 8 – 9, These 14 – 15, These 18 – 21, These 23 – 24, These 33 – 34, These 43 – 44, These 56 – 68 ( !), These 69 – 70, These 71 – 74 und These 75 – 76. Wenn diese Thesen auf jeweils eine reduziert werden, sind es keine 95 mehr, sondern 67. Also weiterhin eine ganze Menge, was er da an die Schlosskirche nagelte.
An den Thesen sieht man übrigens auch, dass Luther zu diesem Zeitpunkt noch an eine Reform von innen glaubte und dar um an mehreren Stellen den Papst explizit in Schutz nimmt. So etwa schon in der erwähnten These 9 und noch entschiedener in These 50, in der er ihn davon freispricht, von den Auswüchsen des Ablasshandels etwas zu wissen: »Wenn der Papst das Geldeintreiben der Ablassprediger kennte, wäre es ihm lieber, dass die Basilika des heiligen Petrus in Schutt und Asche sinkt, als dass sie erbaut wird aus Haut, Fleisch und Knochen seiner Schafe.«
Wie bunt und vielfältig die evangelische Gemeinschaft ist, stelle ich kurz darauf beim Besuch in der Lübecker St.-Petri-Gemeinde fest, die im klassischen Sinne gar keine Kirchengemeinde mehr ist. Lübeck wird auch die Stadt der sieben Türme genannt. Es handelt sich dabei um Kirchtürme und weil die Stadt über Jahrhunderte mächtig war und die Geschicke in Norddeutschland und dem Nord- und Ostseeraum maßgeblich mitbestimmte, mussten es eben auch besonders hohe Bauwerke werden. Vom Turm der Kirche St. Petri überblicke ich Lübeck, das einst die inoffizielle Führerin der Handels- und Wirtschaftsallianz der Hanse war. So kam die Hafenstadt zu Erfolg, Wohlstand und Macht.
»Warum hat eine kleine Stadt wie Lübeck denn gleich sieben repräsentative Kirchen?«, frage ich Pastor Schwarze, der mit mir hier oben auf dem Turm steht und die (laut Selbstbezeichnung) „Kunst-, Kultur- und Wissenschaftskirche“ leitet.
»Durch den Handel war Geld da und wo Geld ist, wird gebaut. Das ist heute noch so, nur dass es keine Kirchen mehr sind. Die verschiedenen Gilden leisteten sich jeweils eine eigene Kirche.«
Die Kirchen, die mit dem Geld der Händler, Goldschmiede und Seefahrer in die Höhe wuchsen, sehen beeindruckend aus. Vom St.-Petri-Turm selbst geht der Blick bis zum Hafen, nur wenige Gehminuten von der Innenstadt entfernt. Diesen Weg gingen auch die Geschwister Mann und bis vor kurzem Günter Grass unzählige Male in ihrem Leben. Auch Willy Brandt ist mit der Stadt eng verbunden. Für eine Kleinstadt bringt es Lübeck damit auf eine erstaunliche Zahl von Nobelpreisträgern, fällt mir dabei auf. Aber ich bin nicht deswegen hier, sondern wegen Pastor Schwarze und seiner St.-Petri-Kirche, für die dieser Turm eine relevante Einnahmequelle ist. Die Touristen kommen, zahlen drei Euro und fahren hier nach oben. »Damit bezahlen wir unser Personal und die Kulturveranstaltungen «, meint Schwarze, als wir wieder nach unten fahren. In St. Petri gibt es zwar keine Gemeinde mehr, aber dennoch handelt es sich weiterhin um eine echte Kirche, wie Schwarze betont. Weil die Stadt keine sieben Großkirchen mehr benötigt, wurde hier jedoch ein neuer Weg eingeschlagen.
»Erst vor wenigen Wochen war es so weit, dass erstmals die Konfessionslosen die größte Gruppe in der Stadt stellten«, bringt Schwarze die neue Zeit auf den Punkt. In St. Petri finden jährlich knapp 50 kulturelle Veranstaltungen mit Bezug zu Gott, Religion und Glauben statt.
»Manchmal machen wir aber auch Veranstaltungen, bei denen nur das Wort im Mittelpunkt steht. Ganz im Sinne Luthers.«
Besonders stolz ist er auf die Petrivisionen, das sind Nachtveranstaltungen, die Musik, Religion und Kultur verknüpfen.
»Wenn Luther das hier sehen würde«, meine ich, während wir im Kirchencafé sitzen und in der eigentlichen Kirche noch die Stuhlreihen stehen, auf denen heute Morgen die Erstsemesterstudenten der Universität begrüßt wurden, »würde er diese Kirche doch eigenhändig niederreißen, oder? Das ist ja definitiv nicht die Rückbesinnung auf die Bibel, wie er sie wollte, wenn eine Kirche zu einem Kulturzentrum wird.«
Schwarze denkt nach und rührt dabei in seinem Espresso.
»Wenn es der Luther des 16. Jahrhunderts wäre, hätten Sie vermutlich recht. Aber wenn es ein Luther wäre, der auch die Entwicklungen der letzten Jahrhunderte mitverfolgt hat, glaube ich schon, dass er das hier gut fände. Gerade er hat ja durch seine Bibelübersetzung ins Deutsche einen wichtigen Schritt auf die Bevölkerung zugetan und wir erleben heute, dass sich die Glaubensbedürfnisse der Menschen eben zum Teil verändert haben.«
»Warum wird man überhaupt Protestant?«
»Meistens, weil es die Eltern schon waren«, meint er pragmatisch-ehrlich, »aber andere spricht auch die Veränderung an, die mit dem Protestantismus im Christentum Einzug hielt. Ein wichtiger Unterschied, der durch Luther entstand, ist schließlich die Verschiebung des Gottesbezugs hin auf das Individuum. Die katholische Kirche hat klare Hierarchien zwischen den Gläubigen und Predigern, wir nicht.«
»Es steht also niemand zwischen mir und Gott?«
»So ist es«, lächelt er.
»Und warum sind Sie dann da?«
»Ich?«, reagiert er verdutzt.
»Also evangelische Pfarrer allgemein, meine ich. Warum gibt es die, wenn es nur mich und Gott gibt?«
»Wir haben ja auch eine administrative Aufgabe, aber kein Pfarrer hat einen direkteren Draht zu Gott, wie es die Katholiken zum Beispiel mit dem Papst zu haben glauben. Für uns gilt das Priesteramt aller Gläubigen.«
»Gibt es etwas, was für Sie typisch protestantisch ist?«
»Zweifeln.«
Vielleicht hat er damit recht, schließlich habe ich keinen evangelischen Geistlichen (ob Mann oder Frau) getroffen, der mir klipp und klar versichern konnte, dass es nach dem Tod weitergeht. Aber eigentlich ist das schon eine Mindestvoraussetzung, die ich an eine Religion stelle. Keine Ahnung vom Leben nach dem Tod habe ich selbst ja genug, das muss ich dann nicht auch noch gemeinschaftlich zelebrieren. Also ziehe ich weiter, will aber Luther das letzte Wort lassen. Es stammt aus seinem berühmten „Brief Von der Freiheit eines Christenmenschen“ an Papst Leo X., in dem er auf vielen Seiten zu entkräften versuchte, eine Gefahr für die katholische Theologie oder gar den Papst selbst zu sein. Er schmeichelt, ist versöhnlich und demütig. Um dann all das mit einem einzigen Satz über den Haufen zu werfen:
»Dass ich aber sollt’ widerrufen meine Lehre, da wird nichts draus.«
Der Text wurde übernommen aus dem Buch: „Deutschland, deine Götter – eine Reise zu Kirchen, Tempeln, Hexenhäuser„